Warum die Wissenschaft Geschichten braucht
Menschen erzählen sich schon seit vielen Jahrtausenden Geschichten.[1] Was macht diese Kulturtechnik so attraktiv und worum geht es dabei eigentlich? Offensichtlich leistet sie die Interpretation von Welt und fungiert als sozialer Kitt.[2] Und tatsächlich gehört es zum Alltag, uns in Geschichten mitzuteilen.[3] Wie zB in jener: Der US-Urologe David D. Wartinger wurde regelmäßig von Kranken aufgesucht, die unter Nierensteinen litten. Gehen diese Steine nicht von selbst ab, werden sie üblicherweise durch Stoßwellen oder durch einen operativen Eingriff beseitigt. Effektiv, aber sonst nicht weiter bemerkenswert. Nicht wie die Beobachtung, die Dr. Wartinger bei seinen PatientInnen machte. Manche kamen nämlich nierensteinfrei aus ihrem Urlaub zurück. Aber nur, wenn sie Ferien in Florida gemacht und dort Disneyworld besucht hatten. Merkwürdig. Und so forschte Dr. Wartinger weiter nach. Offenbar hatten alle eine Achterbahnfahrt im Themenpark unternommen. Nun ging Dr. Wartinger ein Licht auf. Tatsächlich konnte er auch im Experiment nachweisen, wovon seine Klientel profitiert hatte: von den physikalischen Kräften einer zünftigen Achterbahnfahrt. Am besten in der letzten Sitzreihe genossen.
Storytelling und Wissenschaft
Worum drehen sich diese und alle anderen Geschichten? Es geht um ein Ziel, eine Herausforderung, eine Lösung sowie eine tiefergehende Einsicht daraus. Letztendlich soll eine Interpretation gewonnen und geteilt werden. Genau darauf zielen auch die Wissenschaften ab. Mit dem Unterschied diese transparent, plausibel und nachvollziehbar zu machen sowie die Fakten und die Objektivität zu würdigen. Selbst Wissenschaftsjournals scheinen Artikel mit narrativen Abstracts zu bevorzugen.[4] Offenbar erreichen diese höhere Zitationsquoten. Das gilt auch für die Naturwissenschaften. Das wissenschaftliche Erzählen wird aber auch kritisiert; es würde nämlich die Distanz und die Ergebnisoffenheit gefährden.[5] Tatsächlich gehört der interpretierende und einordnende Umgang mit Fakten zum wissenschaftlichen Alltag.[6] Ohne diese Praxis wäre es nämlich gar nicht möglich, Bedeutung zu gewinnen. Dieser Zugriff muss aber stets reflektiert und offengelegt werden. Das gilt analog für Grundannahmen und das Vorwissen. Auch die Bildung von Hypothesen ist aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Damit ist übrigens keineswegs gemeint, die Forschung und ihre Ergebnisse an die Hypothesen anzupassen. Vielmehr geht es darum, ob sich eine Hypothese als plausibel oder eben nicht erweist. Keines der beiden Szenarien ist für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn wertvoller und daher zu bevorzugen. Es ist nämlich enorm wichtig zu wissen, dass A nicht der richtige Ansatz war.
Fokus und Struktur als Bonus
Eine Geschichte zu erzählen bedeutet nicht, dass diese unwahr, erfunden oder übertrieben ist. Auch wenn dies oft die ersten Assoziationen sind und es solche Szenarien natürlich auch gibt. Wissenschaftliches Erzählen kann sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, Fokus und Struktur zu entwickeln. Etwa für ein Inhaltsverzeichnis, ein Kapitel oder einen Vortrag. Es kann auch davor bewahren, sich in Details und Exkursen zu verlieren oder eine Arbeit nicht schließen zu können. Von folgenden narrativen Checks profitiert jede wissenschaftliche Arbeit: Warum ist es dieses Ereignis Wert erzählt zu werden? Was ist daran besonders? Was kann daraus geschlossen werden?
[1] Martin Krzywinski, Alberto Cairo, Storytelling. In: Nature Methods 10 (2013) 687.
[2] Nick Enfield, Our job as scientists is to find the truth. But we must also be storytellers. In: The Guardian 20 06 2018, online hier
[3] Will Storr, The Science of Storytelling. Why Stories Make us Human, and How to Tell Them Better (New York 2019).
[4] Ann Hillier, Ryan P. Kelly, Terrie Klinger, Narrative Style Influences Citation Frequency in Climate Change Science. In: PLoS ONE 11/12 (2016).
[5] Yarden Katz, Against storytelling of scientific results. In: Nature Methods 10/11 (2013) 1045.
[6] Enfield, Our job as scientists is to find the truth, The Guardian
Weitere Debattenbeiträge und Guides
Is storytelling bad for science? Sydney Ideas Event at University of Sidney, 31 July 2018. With contributions by Prof. Nick Enfield, John Collee, Alana Valentine, Prof. Jennifer Byrne, and Prof. Geraint Lewis. Podcast online hier
Will Storr, The Science of Storytelling. Why Stories Make us Human, and How to Tell Them Better (New York 2019).
Rafael E. Luna, The Art of Scientific Storytelling. Transform Your Research Manuscript using a Step-by-Step Formula (Cairo 2013).